Der sekundäre Katastrophengewinn

Zur entlastenden Funktion von Erdbeben

Wir schreiben das Jahr 1755. In weiten Teilen Europas herrscht die „Aufklärung von oben“, gespeist durch einen emphatischen Vernunftbegriff. Zeitgleich wird bereits Kritik am Absolutismus und Feudalismus laut, der Begriff der Vernunft beginnt sich mit dem der Freiheit zu verschränken. Der durch Hobbes´ „Leviathan“ 1651 eingeleitete Säkularisierungsprozess ist voll im Gange. Und dann geschieht folgendes: Am ersten November 1755 erschüttert ein Erdbeben die Stadt Lissabon. Als direkte Folge gibt es eine Feuersbrunst und eine Flutwelle. Die Hautstadt Portugals wird nahezu vollständig zerstört. Ca. 90.000 Menschen sterben dort, 10.000 weitere in der Umgebung.

Der Schock konnte größer nicht sein. Die geistige Welt Europas reagierte schnell. Immanuel Kant, Johann Wolfgang von Goethe, Jean Jacques Rousseau, Heinrich von Kleist, Georg Christoph Lichtenberg, Voltaire, Johann Friedrich Jakobi, Christoph Martin Wieland und viele andere nahmen Bezug auf das Erdbeben. Freiheit und Vernunft wurde durch diese Katastrophe empirisch eine Grenze gesetzt. Die vernünftige Gestaltung der Welt durch die Menschen selbst war in die Schranken gewiesen. Die bis dahin emphatische Philosophie der Vernunft wurde, angeführt durch Kant, in eine neue Phase, die der Vernunftkritik, transformiert. In der „Kritik der reinen Vernunft“ trennt Kant rigide das Reich der Natur, hier herrscht deterministischer Kausalzusammenhang, vom Reich der Freiheit, das der menschlichen Person zugesprochen wird, soweit sie nicht Naturwesen ist. Kant sah dies als einzige Möglichkeit, den Begriff der Freiheit überhaupt noch zu retten. Das kantsche „Ich“, wird so zur „transzendentalen Einheit der Apperzeption“ oder, etwas moderner formuliert, zum logischen Bedingungs-Ich. Nur dieses, von aller Empirie enthobene Ich, ist vernünftig und frei. Und notabene: Diese Abstraktionsmeisterleistungen, die Kant häufig unverstandenerweise vorgeworfen werden, betrieb er eben nicht, um Vernunft und Freiheit radikal abzulehnen, sondern um sie, nach dem Schock der Katastrophe von Lissabon, zu retten. Das Erdbeben von 1755 führte bei Kant so zu einer Form der Vernunftkritik, die nicht ins Irrationale glitt.

Im Folgenden will ich ein paar sozialpsychologische Gedanken über Naturkatastrophen im Allgemeinen und Erdbeben im Speziellen anstellen, die ebenfalls kritischer Philosophie verpflichtet sind, jetzt aber aus dem Theoriezusammenhang der Kritischen Theorie der Gesellschaft kommen und sich auf die heutige Rezeption von Naturkatastrophen im globalisierten Kapitalismus beziehen.

Seit Karl Marx wissen wir, dass im Kapitalismus Krisen nicht derart strukturiert sind, dass zu wenig Güter vorhanden sind, weil zum Beispiel Sturm, Hagel und Regen ganze Ernten vernichtet haben, sondern umgekehrt, weil zu viele Güter auf dem Markt sind, kommt die Wirtschaft ins Stocken. Eine innerkapitalistische Wirtschaftskrise ist eine Überproduktionskrise. Der Verkäufer, zum Beispiel von Reis, kann nicht mehr rentabel verkaufen, wenn zu viel Reis auf dem Markt existiert. Ist der Arbeitsmarkt voll, gilt ebenso, dass man für geleistete Arbeit immer weniger Geld bekommt oder gleich arbeitslos wird und so selbst dazu beiträgt, dass die Löhne weiter fallen. So kommt es zur seltsamen Situation, dass Menschen Mangel leiden, weil zu viele Waren im Umlauf sind, und nicht wie in früheren Zeiten, weil Naturkatastrophen sie vernichtet haben.

Die heißen Kriege erwiesen sich im 20. Jahrhundert als effizienteste Möglichkeit, die immer wieder auftretenden Überproduktionskrisen in den Griff zu bekommen. Die riesige Vernichtung von Menschen (Ware Arbeitskraft) und Sachen (Infrastruktur) in diesen Kriegen, führte dann zu anschließenden wirtschaftlichen Wachstumsphasen. So fußte das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit in Westdeutschland eindeutig auf der vorhergegangenen, durch das Hitlerregime verursachten, grauenhaften Vernichtung. Von einer Stunde Null zu sprechen oder gar davon, dass die soziale Marktwirtschaft in Westdeutschland ausschließlich das Resultat der ach so klugen Gedanken eines Herrn Ludwig Erhard gewesen sei, verschleiert diesen fürchterlichen Zusammenhang.

So notwendig sich die Zerstörung der Überproduktion durch Kriege im ökonomischen System darstellt, so problematisch ist sie im moralischen. Die Vernichtung von Menschen und Sachen gilt in diesem Zusammenhang als sehr heikel. Deswegen bekommen heutige Krieg führende Regierungen auch stets Begründungsschwierigkeiten, was ihre Kriege anbelangt. Schon wer die ökonomische Notwendigkeit von Kriegen einfach benennt (wie ich das hier mache), auch wenn er sie, im Gegensatz zu vielen Regierenden, überhaupt nicht gutheißt, muss sich schnell vorwerfen lassen, er sei ein menschenverachtender Zyniker. Der Verweis, dass man auf die Notwendigkeit von Kriegen in kritischer Absicht verwiesen hätte, und nicht weil man sie toll findet, wird vor lauter Ressentiment meist gar nicht mehr wahrgenommen. Im Verhältnis von Ökonomie und Moral zeigt sich so ein zentraler gesellschaftlicher Widerspruch. Das moralische System von heute schreibt vor, sich „political correct“ auszudrücken und verhindert nicht selten dadurch, was es eigentlich erreichen will – statt zu einer gerechteren und humaneren Welt zu kommen, führt die Ideologie der Political Correctness nicht selten dazu, dass wahrheitsgemäße Zusammenhänge, die in kritischer Absicht genannt werden, nicht mehr ausgedrückt werden dürfen. Das Sauberwerden der offiziellen Sprache ist dann logisch verknüpft mit der Verschleierung gesellschaftlicher Widersprüche. Sprache, Propaganda und Unwahrheit fallen dann zusammen.

In der Sprache der Political Correctness drückt sich das schlechte Gewissen der Menschen aus, die ahnen, dass die meisten heutigen Katastrophen, zum Beispiel die generelle Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten weltweit, im Speziellen das Wegbrechen der Mittelschichten und die zunehmende Kinderarmut in der ersten Welt, Elend, herbeigeführt durch Kriege usw., gesellschaftliche Ursachen haben, also Katastrophen der so genannten zweiten Natur sind.

Für das Schreckliche will der Mensch aber nicht gern Ursache sein, doch wie wird man auf „saubere Art“ die die Wirtschaft hemmende Überproduktion los? Und hier kommt vielleicht die eine oder andere Naturkatastrophe den nicht direkt Betroffenen durchaus zupass. Endlich passiert mal eine Katastrophe, die die wirtschaftlich notwendige Vernichtung praktiziert, ohne dass man sich schuldig fühlen muss. Sind gesellschaftlich bedingte Katastrophen für die Herrschenden moralisch immer heikel, sind es Naturkatastrophen, also solche der ersten Natur, erst einmal nicht.

So ist es nicht verwunderlich, dass den Opfern einer Naturkatastrophe meist mehr Zuwendung durch Spenden zuteil wird, als wenn wieder mal ein Flüchtlingsstrom, ausgelöst durch Stammeskämpfe, Rassenunruhen und daraus resultierender Armut und Existenznot, sich von Afrika Richtung Mittelmeer und Europa bewegt. Man erinnere sich nur an durch Spenden organisierte Hilfsaktionen nach dem Tsunami vom Dezember 2004, die ja doch beachtlich waren. Den afrikanischen Flüchtlingen dagegen droht man mit dem Bau von Flüchtlingslagern, die ihr Elend lediglich verlängern und verlagern.

Im Extremfall einer Naturkatastrophe im Sinne der ersten Natur, wird so den direkt betroffenen Opfern eine Menschlichkeit zuteil, die sie sonst nicht bekommen würden. Für den Normalfall menschlichen Lebens gilt die alte liberale Ideologie, jeder sei seines Glückes Schmied, und wer in Armut und Existenznot gerät, sei selber schuld. Diese bürgerliche Kälte gerät allerdings momentan etwas ins Wanken. Man könnte von einem dialektischen Umschwung in diesem Sinne sprechen, dass eine zunehmende Quantität in eine neue Qualität umzuschlagen beginnt. Immer mehr Menschen, gerade in den entwickelten Industrieländern, geraten in prekäre Lebenssituationen. Dies hängt mit der immensen Zunahme ökonomischer Konkurrenz im globalisierten Kapitalismus seit dem Ende des kalten Krieges zusammen. Zwar ist im Bewusstsein der im Kapitalismus sozialisierten Menschen sehr wohl die oben angesprochene Ideologie des Liberalismus tief verankert, doch ahnen immer mehr Menschen, dass bei der großen Zahl nicht alle Arbeitslosen und zur Klasse der Working Poor gehörigen, bloß faule Säcke sein können. Morgen kann es einen bereits selbst treffen. Das eigene Elend oder die Angst davor, verursacht durch spezifische gesellschaftliche Verhältnisse, die als Sachzwang erlebt werden, erinnert die Menschen immer wieder daran, dass sie diese Verhältnisse, die sich prinzipiell ändern lassen, selbst am Leben erhalten. An den geltenden gesellschaftlichen Verhältnissen, sofern man sie affirmiert, ist man in der Tat selbst schuld und damit auch zum Teil an seiner eigenen prekären Situation.
Das wunderbar Entlastende der Naturkatastrophe im Sinne der ersten Natur ist, dass sie einen an nichts erinnert, vor allem nicht an eine mögliche eigene Mitschuld. Sie ist rein.

Bei genauem Betracht freilich zeigt sich, dass die Differenz von Katastrophen der ersten und solchen der zweiten Natur zwar grundsätzlich richtig ist, sich aber nicht in allen Punkten durchhalten lässt. Denn setzt nach einer Naturkatastrophe die Hilfe nicht rechtzeitig ein, oder ist sie schlecht organisiert, wie zum Beispiel 2005 bei der Flut in New Orleans, dann verschlimmert sich der durch die Natur verursachte Zustand durch einen durch Menschen verursachten. Außerdem wirkt sich der allgemein gültige, schlichte, liberale Grundsatz, wer genügend Geld hat, kann angenehm leben, wer nicht, der nicht, auch auf die ungleiche Verteilung der Last negativer Folgen zum Beispiel von Erdbeben aus. In diesem Zusammenhang lautet er: Wer reichlich Geld hat, kann erdbebensicher bauen, wer nicht, der nicht. Die ungleichen Folgen von Naturkatastrophen sind gesellschaftlich bestimmt. Und warum errichten eigentlich Menschen Städte an Orten, die bekanntermaßen extrem erdbebengefährdet sind, wie zum Beispiel San Francisco? Und außerdem gibt es bei vielen so genannten Naturkatastrophen mittlerweile insofern eine Mitschuld des Menschen, da angenommen werden muss, dass von Menschen verursachte Umweltverschmutzungen zu Klimaveränderungen beitragen. Die daraus resultierende erhöhte Erderwärmung führt dann zu einer Zunahme von schweren Stürmen.

Und da zeigt sich dann doch wieder ein Vorteil bei den Erdbeben: Diese lassen sich weitaus weniger leicht als von den Menschen mitverschuldet nachweisen, als zum Beispiel Katastrophen, die durch Wirbelstürme verursacht wurden. Die entlastende Funktion der nicht direkt Betroffenen ist dadurch bei Erdbeben erheblich stärker.

Während Kant immerhin Vernunft und Freiheit transzendentalphilosophisch noch retten wollte, haben sich die Menschen heute sozialpsychologisch offensichtlich derart eingerichtet, dass sie die Katastrophen der ersten Natur brauchen, um die der zweiten auszuhalten.

Prof. Dr. Thomas Friedrich lehrt Designtheorie und Philosophie an der Fakultät Gestaltung der Hochschule Mannheim. Er leitet das dortige Institut für Designwissenschaft.